Im Oktober haben wir die Aktionswochen gegen Antisemitismus zum 21. Mal eröffnet. Jedes einzelne Jahr waren sie wichtig und haben einen Unterschied gemacht. Sie haben Menschen bestärkt und Räume geöffnet, in denen gelacht, getanzt und gestritten wurde – sie haben Allianzen geschaffen. Inseln der Wärme in einer oftmals feindlichen Umgebung erzeugt, Mut gemacht und Engagement befördert. Jedes Jahr zeigte uns aufs Neue: Die Arbeit gegen Antisemitismus ist alternativlos, denn es war in all den vergangenen Jahrzehnten noch nie gut, unterkriegen lassen haben wir uns davon aber nicht.
Dann kam der 9. Oktober 2019 in Halle: wieder antisemitischer, rassistischer und misogyner Terror in Deutschland – wieder Fassungslosigkeit und Ernüchterung unter den Betroffenen und ihren Verbündeten. Ob all der Inkompetenz, Empathielosigkeit, Ignoranz und Gleichgültigkeit bei wortreicher Behauptung des Gegenteils. Auch der 19. Februar 2020 in Hanau und die Pandemie machten deutlich: Nur weil wir wissen, wie antisemitisch und rassistisch diese Gesellschaft ist, bedeutet das nicht, dass wir nicht immer wieder auch schockiert darüber sind. Und nun ist ein Jahr vergangen seit dem 7. Oktober in Israel. Ein Jahr, in dem Jüdinnen*Juden nicht eine Minute die Möglichkeit hatten, innezuhalten und zu trauern. Denn sie waren und sind damit beschäftigt, sich zu rechtfertigen, „darum zu betteln“, wie es Alexandra Krioukov von der jüdischen Studierendenunion auf einer Gedenkfeier im Oktober beschrieb, „dass ihre Situation anerkannt wird“. Die Situation, die bedeutet, dass islamistische Terroristen das, was sie seit ihrem Bestehen versprechen, was sie seit Jahrzehnten motiviert und planen, letztendlich inszeniert umsetzen: Ein Massaker an Jüdinnen*Juden , wie wir es seit der Shoah nicht mehr erlebt haben, Taten, für die das Wort Massaker nur der Versuch einer Beschreibung ist.
Dass wir heute in dieser Lage sind, dass wir einen terroristischen Antisemitismus auf den Straßen haben, der von Rechtsextremen, Islamisten und Linken gleichermaßen ausgeht und dabei öffentlich abgefeiert wird, das liegt an uns. An unserer Gesellschaft, die spätestens seit 2020 wieder offen darüber diskutiert, was Antisemitismus denn nun eigentlich sei und sich trotz des Wissens um die Vernichtung der europäischen Juden, die von Deutschen geplant und ausgeführt wurde, nach all dem antisemitischen Terror der letzten Jahrzehnte und dem 7. Oktober immer noch nicht darauf einigen kann, dass Antisemitismus vor allem eins ist: ein Gewaltverhältnis, dessen Versprechen die Vernichtung ist.
Weil es wieder salonfähig ist, zur Vernichtung von Jüdinnen*Juden aufzurufen, ihre Wohnungstüren mit Davidsternen zu markieren und Anschläge auf jüdische Einrichtungen zu verüben, sind die Aktionswochen wichtiger und bedeutungsvoller denn je. Denn jeder einzelne Übergriff, jedes rote Hamas-Dreieck, jedes Hassposting, jede Hass-Demo, aber potenziell und oftmals auch real jede Taxifahrt, jede Paketannahme für einen Nachbarn, jeder Besuch der Uni oder des Büros konfrontiert aktuell Jüdinnen*Juden mit der uralten Gewissheit, dass man ihnen an den Kragen will. Jüdisches Leben in Deutschland ist bedroht und trotzdem erleben jüdische Menschen hierzulande ausgesprochen wenig Solidarität und kaum Empathie. Dieser Hass geht uns alle an, denn wo Betroffenen von Hass sich nicht mehr frei bewegen können, ist unsere demokratische Gesellschaft in Gefahr.
Das gilt auch für die Debatte um ein Verbotsverfahren der AfD, die demokratisch legitimiert und selbstbewusst Hass und Hetze verbreitet. Das Grundgesetz sieht aus gutem Grund dieses Mittel vor. Aber für die Betroffenen macht eine solche Diskussion vor Ort nicht den Unterschied: Auf ein Verbot, so sinnvoll es sein mag, können wir nicht warten, wir müssen jetzt handeln!
Denn auch wenn die AfD verboten wird: Am Ende bleiben die Rassisten und Nazi-Schläger vor Ort, wo sie seit Generationen leben. Und die Engagierten und Betroffenen sind dort auch immer noch, Tür an Tür mit ihren Nachbarn, die sie von dort verjagen wollen. Während also die Politik darum wetteifert, wer die menschenfeindlichste Asylgesetzgebung vorschlägt und umsetzt, schaffen andere Rassisten schon längst Tatsachen: Die rechtsextremen Bürgerwehren sind zurück.
Es ist zehn nach zwölf. Aber die gute Nachricht ist: Ohne das Engagement der vielen Aktiven sähe die Lage noch schlimmer aus. Noch ist Deutschland demokratisch, noch gibt es die Kraft weiterzumachen. Geben Sie nicht auf, denn Sie können, genau wie wir, tagtäglich den Unterschied machen. Wenn wir Schlimmeres aufhalten wollen, müssen wir alle schauen, was jede*r ganz persönlich tun kann. Wenn sie Anwältin sind, beraten sie kostenlos Vereine, die um ihre Gemeinnützigkeit fürchten. Wenn Sie Psychotherapeutin sind, fragen sie bei den psychosozialen Zentren, wie sie helfen können. Wenn Sie eine Stadtbibliothek leiten, stellen Sie ihren Raum kostenlos demokratischen Initiativen zu Verfügung, die sonst keinen Ort finden.
Es gibt etliche Bündnisse, viele Bekenntnisse, noch mehr Gesprächsrunden. Alles wichtig und gut. Aber was es vor allem braucht, ist ins Handeln zu kommen. Auch eine Spende kann hier den Unterschied machen: Eine Anzeige in überregionalen Zeitungen weniger und den Gegenwert als Finanzspritze in die demokratische Zivilgesellschaft stecken. Die Zivilgesellschaft weiß, was es braucht, was sie tun muss, aber den Engagierten deutlich zu machen, dass sie nicht allein sind, ist so wichtig wie nie zuvor. Denn Kraft ist endlich. Eins ist nämlich sicher: Ob es am Ende zum Verbot der AfD kommt oder nicht, die Zivilgesellschaft wird da sein. Noch haben wir es in der Hand, in welchem Zustand sie dann ist.
Ihre Tahera Ameer Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung |