ich möchte Sie heute um einen Gefallen bitten. Natürlich wissen Sie, dass am Sonntag wichtige Wahlen anstehen. Ich bin sicher, Ihnen ist bewusst, was auf dem Spiel steht und dass Sie Ihrer Stimme an der Wahlurne Gehör verschaffen. Aber vielleicht haben Sie noch die Gelegenheit, zum Telefon zu greifen und in der Familie und im Bekanntenkreis für die demokratische Wahl zu werben, nichts wäre ärgerlicher als verschenkte Stimmen.
In ganz Deutschland wählen wir das Europäische Parlament, aber viele Menschen werden noch weit mehr Kreuze machen: In acht Bundesländern sind über 22 Millionen Wähler*innen zu den Kommunalwahlen aufgerufen, zu besetzen sind insgesamt an die 100.000 kommunale Mandate.
Es mag abgedroschen klingen, aber es kommt wirklich auf jede Stimme an. Denn Rechtsextreme wählen an diesem Sonntag in jedem Fall. Sie wissen, wie Wahlen Veränderungen bewirken können, wie schnell Freiheiten genommen und autoritär regiert werden kann. Nicht zuletzt deshalb versuchen sie, mit bewusster Desinformation und Angriffen auf demokratische Politiker*innen die Wahlen zu beschädigen. Erstmals könnten an diesem Sonntag vor allem in Ostdeutschland rechtsextreme Parteien in vielen Kommunen die stärkste Fraktion und sogar mit vermeintlich „unpolitischen“ Listen die Mehrheit stellen. Auch in Europa droht ein erheblich gestärkter Einfluss extrem rechter Parteien. In Deutschland könnte eine rechtsextreme Partei sogar zweitstärkste Kraft werden. In diesem Zusammenhang von einem Rechtsruck zu sprechen, finde ich verharmlosend, wenn Parteien mit menschenverachtender Ideologie einen erheblichen Einfluss auf europäische Politik bekommen und mit einer möglichen Mehrheit im Europäischen Parlament bis zur Wahl der Kommissionspräsident*in demokratische Prozesse sabotieren und die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union wieder abschaffen wollen.
Ein Tipp, falls Sie noch kurzfristig Argumente für eine starke Europäische Union brauchen, dann lege ich Ihnen die Website „Das tut die EU für mich“ ans Herz. Und wenn Sie die Antwort hören, dass ja „ohnehin alle Parteien austauschbar“ seien und man gar nicht wisse, wen man wählen soll, dann bleibt immer noch der Wahl-O-Mat. Unsere Demokratie bietet eine riesige Vielfalt an Parteien. In jedem Fall sollte ein Stimmzettel kein Denkzettel aus vermeintlichem „Protest“ sein, sondern eine wohlüberlegte Entscheidung darüber, wie unser Zusammenleben aussehen soll.
Aber nicht nur Wahlen machen die Demokratie aus. Deswegen ist es genauso wichtig, sich darauf zu konzentrieren, dass auch nach den Wahlen die demokratische Kultur allerorts eingeübt und verteidigt, Projekte und Initiativen gefördert und Betroffene rechter Angriffe unterstützt werden müssen. Weiter unten schreiben Ihnen unsere Partner*innen aus drei ostdeutschen Bundesländern, wie sie auf die Wahlen blicken und was davon abhängt. Egal, wie die Wahlen ausgehen, wir möchten weiter für unsere Demokratie streiten - mit Ihnen, liebe Leser*innen, zusammen. Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende und eine gute Wahl.
Ihr Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung
P.S.: Die Thüringer Landtagswahlen 1924, also vor 100 Jahren, markierten eine tiefe Zäsur: Weil die bürgerlichen Parteien keine Mehrheit erreichten, trat eine von den Nationalsozialisten tolerierte Minderheitsregierung das Amt an. Damit wurden die Rechtsextremen nicht nur anschlussfähig, sie ließen sich das auch teuer bezahlen: Sie erzwangen die Absetzung von Juden aus Ämtern, vertrieben das Bauhaus und erwirkten eine Aufhebung des Verbots der NSDAP. Dass sich die Geschichte nicht wiederholt, liegt jetzt an uns.
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