letzte Woche haben sich über 150 Engagierte bei der Tagung unseres Kompetenznetzwerks Rechtsextremismusprävention Komprex in Leipzig weitergebildet, ausgetauscht und vernetzt. Im direkten Gespräch haben viele Menschen aus kleineren Städten sehr klar gesagt, dass sie schlichtweg Angst haben, was nach den EU- und Kommunalwahlen am 9. Juni passiert. Viele sind besorgt und fühlen sich nicht ernst genommen. Und ich kann sie gut verstehen. Es drohen in Ostdeutschland weitere rechtsextreme Bürgermeister*innen und Landräte. Aber fast schlimmer ist, dass auch in vielen Kommunalparlamenten eine dominante rechtsextreme Fraktion wahrscheinlich ist, die mithilfe vermeintlich “unpolitischer” Wahllisten antidemokratische Mehrheiten in den Parlamenten ermöglicht. Kontrolle und der Zwang zur Mäßigung entfallen völlig. Stadtoberhäupter können problematischen Maßnahmen umsetzen. Viele Menschen könnten nach dem 9. Juni in einer anderen, antidemokratischen Stadt aufwachen. Kommunale Gestaltungsmöglichkeiten werden unterschätzt. Sehr schnell könnten Integrationsbeauftragte abgeschafft oder in Remigrationsbeauftragte umbenannt werden, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen und Gleichstellungsbeauftragte könnten marginalisiert werden. Aus ihrer “wohltemperierten Grausamkeit” (Höcke) hat die AfD nie einen Hehl gemacht.
Mittelfristig könnten die kommunalen Trägerschaften für Jugend- und Freizeiteinrichtungen, Bürgertreffs, Theater- und Kultureinrichtungen bis hin zu den Kindertagesstätten, Sportplätzen und Schulträgerschaften, also Orten, an denen freie Selbstentfaltung und damit auch Demokratie gelebt werden, im Sinne der Landnahme der Neuen Rechten ausgeschrieben und von entsprechenden Trägern übernommen oder die Förderung ganz eingestellt werden. Dass das alles keine wilden Fantasien sind, lässt sich in Echtzeit in Ungarn, Österreich oder den Drehbüchern für die drohende Machtübernahme einer zweiten Trump-Regierung nachverfolgen. In kommunalen Eigenbetrieben könnten die Schlüsselpersonen ausgetauscht werden und die Mitarbeiter*innen der Verwaltungen nicht mehr auf Recht und Gesetz verpflichtet, sondern auf die persönliche Loyalität gegenüber dem jeweiligen Amtsinhaber. Das hat kürzlich der neue Bürgermeister im sächsischen Pirna angedroht, der auf dem AfD-Ticket ins Amt gekommen ist. Dazu kommt die bei Rechtsextremen notorische Kleptokratie und Korruption. Die Stadtkasse wird schnell zum Portmonee der Partei.
Aber am schlimmsten ist die Ermutigung, die gewaltbereite Rechtsextreme erfahren. Nach dem Wahlsieg des AfD-Kandidaten in Sonneberg als Landrat hat die Gewalt im Landkreis massiv zugenommen. Unsere Partner von der thüringischen Betroffenenberatung ezra bezeichnen Sonneberg mittlerweile als rechtsextremen Hotspot. Erfahrungsgemäß orientiert sich zudem die Polizei an den Rollenbildern der kommunalen Spitze: Demokratische Engagierte und Minderheiten werden “vogelfrei“, der Rechtsstaat und das staatliche Gewaltmonopol zu leeren Versprechen. Es drohen neue Baseballschlägerjahre.
Nun wird diese drastische Situation nicht überall eintreten. Aber die Gefahr ist real, wenn wir uns ihr nicht entgegenstellen. Viele Menschen sind besorgt und fühlen sich nicht ernst genommen. Und Angst ist nie ein guter Berater. Die Kolleg*innen von unserem Leipziger Büro bieten für zivilgesellschaftliche Akteure Zukunftsworkshops an, um sich auf eine rechtsextreme Vorherrschaft in Ostdeutschland vorzubereiten, handlungsfähig zu bleiben und sich dem entgegenzustellen. Um der aktuellen Stimmungsmache und den vielen Desinformationen entgegenzutreten, machen wir im Rahmen des Projekts faktenstark mit der Bertelsmann Stiftung und codetekt mit Workshops und intensiver Aufklärungsarbeit die Fakten stark und unser Gegenwind-Fonds ermöglicht eine langfristige Stärkung des Engagements gegen Rechtsextreme in den Klein- und Mittelstädten.
Bleiben auch Sie bitte stark und nutzen die Möglichkeiten in Ihrem Umfeld: Sprechen Sie mit Familie und Freund*innen über die drohende rechtsextreme Landnahme, unterstützen Sie demokratische Parteien und deren Kandidat*innen im Wahlkampf. Lassen Sie an Ihrer klaren Haltung keinen Zweifel. Und wenn Sie können, unterstützen Sie unseren Gegenwind-Fonds oder unsere Aktion CURA für Betroffene von rechter Gewalt mit einer Spende.
Ihr Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung
PS: Noch eine gute Nachricht zum Schluss. Vor einem dreiviertel Jahr haben über 70.000 Menschen kleine Summen gespendet, um die mutmaßlich betroffenen Frauen von sexualisierter Gewalt des Rammstein-Sängers Till Lindemann zu unterstützen. Wir hatten auf Bitten von Prominenten die Trägerschaft für die Spendenaktion übernommen, ein wahrlich historischer Moment. Noch nie wurde in Deutschland von so vielen verschiedenen Menschen so viel Geld zur Unterstützung mutmaßlich Betroffener von sexualisierter Gewalt gesammelt. Dadurch konnten wir schnell und unkompliziert 88.000 Euro für mehrere Frauen zur Verfügung stellen. Viele andere Betroffene haben sich gemeldet, der Bedarf ist groß. Mit der Gründung des gemeinnützigen Fonds zur Unterstützung von Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt „Tilda“ wird eine Leerstelle geschlossen. Die Erlöse der Kampagne "Wie Viel Macht 1€“ sollen nachhaltig wirken. Wenn sie nichts dagegen haben, werden wir über 650.000 Euro an den neugegründeten "Tilda"-Fonds der gemeinnützigen Initiative #stattblumen überweisen. Auch hier Pionierarbeit, es ist der erste seiner Art in Deutschland. Ich danke allen Spender*innen sehr, bin stolz auf das zupackende Engagement meiner Kolleg*innen und danke insbesondere dem Bundesverband für Frauenberatungsstellen (bff) für die enge, vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit. |