Die genauen Radikalisierungsprozesse unterscheiden sich je nach Individuum und Weltsicht, haben aber vergleichbare Momente und Muster. Dem australischen Wissenschaftler Luke Munn zufolge durchlaufen digitale Radikalisierungsprozesse meist drei sich überschneidende, nicht immer geradlinige kognitive Phasen. In der ersten Phase der Normalisierung kommen Nutzer*innen mit radikalen Inhalten erstmals in Kontakt. Der eigentliche Inhalt wird dabei oftmals durch Witz und Ironie oder andere plattformspezifische Ästhetik (Trends, Challenges, etc.) verschleiert. In der zweiten Phase der Akklimatisierung wird sich an die angezeigten radikalen Inhalte gewöhnt. Es werden am Anfang noch Meinungen übernommen, die anschlussfähig an die sogenannte „Mitte der Gesellschaft" sind (z.B. eine Kritik am „gendern“ – also der Anwendung einer geschlechtergerechten Sprache). Mit der Zeit verlieren Nutzer*innen an Empathiefähigkeit und es werden durch den befeuerten Algorithmus zunehmend radikalere Inhalte ausgespielt. Eine Veränderung der Wahrnehmung ist die Folge, welche in der Szene „red pilling“ genannt wird. Diese Selbstbezeichnung radikalisierender Menschen, angelehnt als popkulturelle Referenz an den Film „Matrix“, bezeichnet das Phänomen, immer weiter nach der vermeintlichen Wahrheit zu suchen und kein „Schlafschaf“ mehr sein zu wollen. Das öffnet die Türen für immer extremere Inhalte und Verschwörungsideologien. Und dies führt schließlich zur dritten und letzten Phase: die Dehumanisierung. Menschen werden nicht mehr als Individuen angesehen, sondern als gleichförmige Wesen, mit der gleichzeitigen Aberkennung jeglicher Menschlichkeit und den damit einhergehenden Rechten (z.B. in der Entmenschlichung von Jüdinnen und Juden im Antisemitismus). Der Weg zu einem potenziellen Handlungsdrang, z.B. in Form einer Gewalttat, wird dadurch geebnet. Als einfache Veranschaulichung kann das Zwiebelprinzip dienen, wobei die sich radikalisierenden Personen verschiedene Schichten durchlaufen, neue vermeintliche Wahrheiten erschließen und immer weiter in den „Kaninchenbau" eintauchen. |