Individualität, aber auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder Gruppe spielt für die jüngere Generation eine große Rolle. Ersteres resultiert unter anderem aus einer schier maßlosen Anzahl an Optionen in den heutigen Gesellschaftsstrukturen. Durch die Vielzahl an Social Media Tools und den damit verbundenen Selbstdarstellungs-Möglichkeiten stehen die Jugendlichen unter Druck, die eigene Individualität geschickt zur Geltung zu bringen. Gerade die Jugendzeit ist stark geprägt von Identitätsfindung.
Auch in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit spielt die Einzelperspektive eine Rolle. Das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ vom Bayerischen Rundfunk und Südwestrundfunk hatte zum Ziel, jungen Menschen die Perspektive der Scholl-Geschwister aufzuzeigen. Das umstrittene Projekt wurde von Mai 2021 bis April 2022 durchgeführt und simulierte die letzten 10 Monate der Widerstandskämpferin in Echtzeit. Der Account fungierte als fiktives Instagram-Profil von Sophie Scholl als Influencerin, gespielt von der Schauspielerin Luna Wedler. Solche innovativen digitalen Projekte sind ein guter Ansatz, um das Interesse junger Menschen an der NS-Zeit zu wecken. Jedoch wurde auch Kritik laut, da das Projekt bei den Zuschauer*innen ein verzerrtes Bild von einem ausgeprägten deutschen Widerstand hervorrufen könnte. Auch die Wahl einer weißen, deutschen und christlichen Widerstandskämpferin würde die Assoziation einer deutschen Opferrolle erzeugen. Zudem hätten die fiktionalen Anteile der Erzählung deutlicher als solche gekennzeichnet sein sollen. Tatsächlich gab es die Idee der NS-Erzählung aus der Selfie-Perspektive schon vor dem Sophie Scholl-Projekt. Der israelische Regisseur Mati Kochavi hat 2019 mit Unterstützung seiner Tochter Maya die „Eva-Stories“ umgesetzt, welche 2019 zum israelischen Tag des Gedenkens an den Holocaust Yom Hashoah online ging. Kochavi stammt aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden und wollte mit dem Projekt die Erinnerung an den Holocaust für junge Menschen wachhalten, abseits von Museen und Büchern. In Form von Instagram-Stories wurde die Geschichte von Eva Heymann abgebildet. Die ungarische Jüdin wurde 1944 im Alter von 13 Jahren in Auschwitz ermordet. Der Account basiert auf dem real existierenden Tagebuch, welches sie bis zu ihrem Tod schrieb.
Instagram-Formate von Todesopfern des Nationalsozialismus aus Selfie-Perspektive werden von Kritiker*innen häufig als geschmacklos und Holocaust-trivialisierend betrachtet. Doch die filmische Darstellung einer jüdischen Perspektive, produziert von jüdischen Regisseur*innen, stellt wohl eine bessere Grundlage dar, als die Darstellung einer deutschen Perspektive, produziert von deutschen Regisseur*innen.
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