jedes Mal, bevor ich diese Zeilen schreibe, gehe ich gedanklich durch die vielen alltäglichen Meldungen von Hass und Hetze in Deutschland. Die schiere Zahl lässt mich wütend werden, ich habe das Gefühl, dass es an allen Ecken und Enden brennt. Und dass wir angesichts der riesigen Herausforderungen ganz klein sind und gegen Windmühlen zu kämpfen scheinen.
Allein das letzte Wochenende zeigt das Ausmaß: Während die ganze Bundesrepublik mit Spannung verfolgte, wie die linke Szene in Leipzig auftreten würde, wurde in Eisenach beim Burschentag in „guten alten Zeiten geschwelgt“ und wurden Parolen wie „Ab-Ab-Abschieben“ skandiert. Die ca. 300 Teilnehmenden im Blick zu behalten sei der Polizei nicht möglich gewesen, da Polizeikräfte in Leipzig gebunden gewesen wären. Zeitgleich trafen sich 60 km entfernt 170 „Reichsbürger“ zu einem „Zukunftskongress“, ein Vernetzungstreffen mit überregionaler Bedeutung, bei dem auch einschlägige Rechtsextreme auftraten. Ein Spektrum, dass die demokratische Ordnung in Deutschland abschaffen will. Und trotzdem können deren Mitglieder als legale Waffenbesitzer registriert sein. Im Sächsischen Riesa hielt zeitgleich die NPD ihren Parteitag ab. Die Partei, deren Verbot allein an ihrer politischen Bedeutungslosigkeit scheiterte, versucht sich neu zu erfinden, zumindest nach außen: Seit dem Wochenende heißt sie „Die Heimat“. Ihr ehemaliger Bundespräsidenten-Kandidat, der rechtsextreme Liedermacher Frank Rennicke, hielt währenddessen einen Liederabend in Aue im Erzgebirge ab. Eingeladen hatte diesmal die rechtsextreme Partei „Freie Sachsen“, die im Freistaat maßgeblich hasserfüllte und demokratiefeindliche Proteste orchestriert. Und das passiert nicht heimlich: Die Flaggen der Partei wehen beinahe auf jeder Demonstration dieses Spektrums, mit dem „Sachsentreff zum Kronprinz“, wo der Liederabend stattfand, haben die „Freien Sachsen“ eine eigene Gaststätte. Die Rechtsextremen sind buchstäblich völlige Normalität und längst angekommen.
Und auch diese Meldung bekam wenig Aufmerksamkeit: Am 27. Mai schoss in Hamburg ein Hitler-Fan auf seine hochschwangere Nachbarin - durch deren geschlossene Wohnungstür. Nur durch Glück blieb sie unverletzt. Viele dieser Meldungen sind nur kleine Randnotizen. Das gefährliche Desinteresse gegenüber diesen Entwicklungen ist nicht neu. Schon als die Hetze gegen Geflüchtete ab 2015 sprunghaft zunahm, antwortete eine Polizeidienstelle auf unsere Frage, warum der Angriff auf eine Unterkunft keine Pressemitteilung zur Folge habe, der Diebstahl eines Gegenstands am selben Tag im selben Ort aber schon, der Angriff auf die Unterkunft liege „nicht im öffentlichen Interesse“. Heute wie damals müssen wir deutlich machen: Die Situation der Betroffenen von rassistischem und antisemitischem Terror und der Angehörigen der Ermordeten liegt im öffentlichen Interesse. Die Situation von Menschen, die ihre Flucht überlebt haben und nun ihr Menschrecht auf Asyl geltend machen wollen liegt im öffentlichen Interesse. Die Situation von Menschen, die tagtäglich Opfer von Antisemitismus, Rassismus, misogyner Gewalt und anderen Formen von Hass werden liegt im öffentlichen Interesse. Ihre Lebensrealität ist die Lebensrealität aller in dieser Gesellschaft.
Eine Demokratie ist nur so gut, wie ihre Bereitschaft, Minderheiten zu schützen. Und gerade in dieser Hinsicht fällt die Bilanz in diesen Wochen wieder schlecht aus. Den Brandsätzen in der Medienberichterstattung und den Kommentaren von in Verantwortung stehenden Politiker*innen folgen Brandsätze und Gewalt auf der Straße. Solche Gewalt gilt dann bestenfalls als „Weckruf“, aber leider wacht niemand auf, auch diejenigen nicht, die das Wort führen.
Dieses Nicht-Reagieren, dieses Aussitzen, dieses Spiel mit dem Feuer macht mich wütend. Wütend darüber, dass offene und subtile Gewalt gleichermaßen weggeredet wird. Liegt es denn nicht im öffentlichen Interesse, dass Juden und Jüdinnen, die in Kunst- und Kulturinstitutionen arbeiten, Antisemitismus erfahren? So oft, dass wir es offensichtlich mit einem strukturellen Problem zu tun haben? Dass das Theaterstück „Vögel“, dessen Inszenierung in Lüneburg jüdische Studierende als „eine traumatisierende Erfahrung“ beschreiben, von mehr als 22 Regisseur*innen in Deutschland inszeniert wurde? Unsere Tagung „Alles von der Kunstfreiheit gedeckt? Aktuelle Herausforderungen im Umgang mit Antisemitismus in Kunst und Kultur“ hat schmerzhaft deutlich gemacht, wo wir stehen. Jüdinnen und Juden teilten nicht nur ihre Erfahrungen, sondern gaben den Kulturinstitutionen gleich auch Handlungsempfehlungen als Serviceleistung mit auf den Weg. Ein Service, dessen Wert – das Gefühl blieb am Ende der Tagung – nicht unbedingt geschätzt wurde, um es vorsichtig auszudrücken. Ob sich was ändert? Ob wirklich zugehört wurde und wird, wird sich in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren zeigen.
Ich war in diesen Wochen aber auch sehr froh: Für mich persönlich war es ein Geschenk, an dem Gedenken an die Toten und Verletzten von Solingen vor 30 Jahren in Frankfurt am Main teilzunehmen: Organisiert vom breit aufgestellten Bündnis Hülya-Tag, dass seit Jahrzehnten um das Erinnern kämpft und mittlerweile eine große Unterstützung vieler Engagierter und auch der Stadt genießt. Für den Moment waren wir im Schmerz tief verbunden, konnten uns stärken und auch lachen. In solchen Momenten kommen Kopf und Bauch zusammen und die Wut weicht der Gewissheit: Wir sind viele und wir sind laut und wir werden unbeirrt weiter für eine Welt ohne Hass kämpfen.
Ja, ich bin wütend. Ja, ich bin mitunter auch verzweifelt angesichts der schier endlosen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Aber ich bin auch hoffnungsvoll. Meine Hoffnung – und sie beruht auf einer langen Erfahrung von Widerständen, Rückschlägen und kleinteiligen Errungenschaften – liegt in der Zivilgesellschaft. Sie, und damit wir alle, wird und werden es sein, die in stürmischen Zeiten wie diesem am Kurs einer offenen Gesellschaft festhalten und für sie eintreten, auch wenn wir uns damit manchmal allein auf weiter Flur fühlen. Danke, dass ich Sie dabei an unserer Seite weiß!
Herzliche Grüße Ihre Tahera Ameer |