Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, am Ende dieses kräftezehrenden Jahres kurz innezuhalten, Bilanz zu ziehen und Gedanken für das kommende Jahr zu sortieren. Doch der Anschlag in Magdeburg, wie jeder terroristische Angriff, verändert plötzlich alles. Die schreckliche Tat, die das Leben von fünf Menschen forderte, lässt uns alle erschüttert zurück. Menschen, die mit brachialer Gewalt aus dem Leben gerissen wurden. Ich denke an die Familien, die ihre Liebsten verloren haben, an die schwer verletzten Menschen, die um ihr Leben ringen. Ich bin in Gedanken bei all denen, die auch lange nach diesem Anschlag mit den psychischen und physischen Folgen kämpfen müssen, an die Menschen, deren Leben nie wieder an die Minuten vor dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt anschließen kann. Der Anschlag in Magdeburg erinnert an den Horror des Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlags 2016. Aber der Täter ist diesmal kein Islamist, wie schnell durch geschickte rechtsextreme Desinformation verbreitet wurde, sondern ein Mann, der sich seit Jahren islamfeindlich äußerte, Verschwörungstheorien verbreitet und politisch die Nähe der rechtsextremen AfD suchte. Das löste zunächst Verwirrung aus. Wie passt das zusammen? Es mag verwirren, ist aber nicht kompliziert. Die Initiative „München OEZ erinnern“, die das Gedächtnis an den rechtsextremen Terroranschlag an und in dem Olympia-Einkaufszentrum aufrechterhalten, hat schmerzlich erlebt, dass die rassistische Motivation des Täters dort lange nicht anerkannt wurde, weil er selbst Migrationsgeschichte hatte. Sie wiesen nach dem Magdeburger Anschlag auf die Parallelen zu München hin: „Politische Einstellungen sind nicht an Herkunft gebunden“, schreiben sie in einem Statement.
Rechtsextreme hält das aber nicht davon ab, die Tat eines rechtsextremen Islamhassers schon wenige Minuten danach für sich zu vereinnahmen: So demonstrierten rund 1.000 Menschen aus der Szene mit Slogans wie „Remigration“ und „Widerstand“ in den Straßen. Und wie so oft, schlägt auch jetzt wieder die rassistische Hetze unmittelbar in Gewalt um: In Magdeburg entlädt sich der Hass gegen Menschen, die ins Feindbild passen, ungehemmt bis hin zu körperlichen Attacken.
Die Bedrohung für unsere Gesellschaft kommt von denjenigen, die die liberale Demokratie als Ganzes zerstören wollen und für die Gewalt ein probates Mittel ist. Die extreme Rechte und die islamistische Szene nutzen jede Gelegenheit, um ihre eigenen politischen Agenden voranzutreiben, und sie wissen dabei, dass der Schmerz und die Verwirrung, die nach solchen Anschlägen entstehen, ein fruchtbarer Boden für ihre menschenfeindliche Propaganda sind. Ihnen geht es nicht um die Opfer des Anschlags, nicht um Mitgefühl und Solidarität, sondern um die Zerstörung dessen, was uns als Gesellschaft ausmacht.
In einem solchen Klima dürfen wir uns nicht auf die Instrumentalisierungsversuche einlassen. Es ist auch nach der Tat von Magdeburg unerlässlich, sowohl Rassismus als auch Islamismus gleichermaßen zu benennen und gemeinsam Schritte dagegen zu unternehmen. Keine einzige Desinformation oder Verschwörungserzählung, die gerade zuhauf im Netz kursieren, hilft den Opfern oder ihren Angehörigen weiter. Sie aber müssen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass den Überlebenden und Angehörigen dieses Terroranschlags nicht dasselbe widerfährt, was den Überlebenden und Angehörigen der Terroranschläge der letzten Jahrzehnte widerfuhr: sie kämpfen bis heute um Anerkennung, Entschädigung und sind oftmals alleine mit dem Versuch, an ein Leben anzuknüpfen, das ihnen genommen wurde. Doch für den Moment lassen Sie uns zunächst einmal innehalten, gemeinsam an die Opfer und Angehörigen denken und unserem Mitgefühl und unserer Solidarität Ausdruck geben.
Ihre Tahera Ameer
Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung |